Editorial

  • Heinrich Dauber
  • Markus Hänsel
Schlüsselwörter: Editorial

Zusammenfassung

Den Autoren dieses Heftes geht es wie vielen anderen, teils kritischen, teils entsetzten Beobachtern des Weltgeschehens dieser Tage: Wir alle sind nicht nur in der öffentlichen Berichterstattung ständig konfrontiert mit einer Vielzahl chaotisch verlaufender Krisen und Konflikte, die offenbar immer weniger mithilfe traditioneller Lösungsstrategien begrenzt und durch die politischen Eliten gesteuert werden können. Viele Menschen empfinden diese Krisen als persönliche Bedrohung und suchen ihr ‚Heil‘ in überwunden geglaubten Formen kollektiven Bewusstseins. Handelt es sich um Krisen der Realität, die durch eine Transformation unseres Bewusstseins überwunden werden können, oder umgekehrt: Sind die Transformationsprozesse unseres Bewusstseins in eine Krise geraten, die sich nun in den zerstörerischen Folgen unseres Handelns in der Realität zeigen? In diesem Heft wird, wie teilweise schon in früheren Heften (2010/2, 2011/1, 2015/2), der Versuch unternommen, nicht bei der reinen Beschreibung dieser Krisen stehen zu bleiben, sie auch nicht in apokalyptischer Beschwörung auszumalen, sondern die ihnen zugrundeliegenden Muster im Hintergrund bewusstzumachen, wie diese uns daran hindern, gemeinsam für eine ‚andere‘ Zukunft einzutreten; d.h. sowohl die Begrenzungen wie die Potentiale einer sich in Ansätzen zeigenden weitreichenden Bewusstseinsveränderung zu reflektieren und auf dem Hintergrund eigener Erfahrungen kritisch zu überprüfen. Dieser Versuch kann – gemäß dem Programm und Profil dieser Zeitschrift – nur in Form eines inter- und transdisziplinären Ansatzes in Angriff genommen werden. Dieser Ansatz spiegelt sich denn auch im wissenschaftlichen und persönlichen Profil der Autor(inn)en, in ihrer Art zu leben, zu arbeiten und zu schreiben: als freie Publizisten, als Hochschullehrer der Psychologie, Soziologie, Erziehungswissenschaft, Religionswissenschaften, Naturwissenschaften, als Bewusstseinsforscher und Psychotherapeuten. Ihre Analysen und Vorschläge treffen sich in zwei Akzenten: Angesichts der globalen Krisenerscheinungen geht es um die geistige Herausforderung zu einem grundlegenden Bewusstseinswandel, der ganz wesentlich von sozialen Basisbewegungen und Akteuren der Zivilgesellschaft getragen und vorangetrieben wird. Der Journalist und Publizist Geseko von Lüpke, Autor zahlreicher Bücher zum Thema des Heftes, vertritt die These, „dass wir die sicheren Krisen der nahen Zukunft brauchen werden, um einen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Wandel hin zu einer überlebensfähigen Welt überhaupt erst möglich zu machen“, und dass wir dazu auf zahllose kleine kulturelle Aktivitäten der Zivilgesellschaft bauen können, deren Ziel es ist, das Modell der ‚industriellen globalisierten Wachstumsgesellschaft‘ zu transformieren und hinter uns zu lassen. Dieter Keim, Professor für Stadt- und Regionalentwicklung, begreift die weltweiten Krisen vor allem als geistige Herausforderung an unser westliches Wertesystem. Im Rückblick auf sein berufliches Leben argumentiert er zweigleisig: aus der Sicht des Wissenschaftlers und aus der Sicht eines der Aufklärung verpflichteten Zeitgenossen mit seiner eigenen Lerngeschichte. Seine Kernfrage lautet: „Warum werden unsere eigenen, historisch erworbenen, in der Gegenwart weiterentwickelten zentralen Werte … in der Öffentlichkeit nicht deutlicher praktiziert…und entschlossener verteidigt?“ Seine Vision ist, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, in dem jeder in kluger und konstruktiver Weise dazu beitragen kann, gute Chancen für gesellschaftliche Teilhabe und individuelle Entwicklung für alle zu eröffnen. Katharina Ceming, promovierte Philosophin und Theologin, arbeitet seit 2011 als freiberufliche Dozentin und Publizistin. Der vorliegende Artikel basiert auf einem Vortragstext und diskutiert Anknüpfungspunkte zwischen den allgemeinen Menschenrechten der Neuzeit und den heiligen Texten der Weltreligionen (Judentum, Christentum, islamische Theologie, Hinduismus, Buddhismus). Obwohl sich in allen Religionen Konzepte für die Anerkennung einer jedem Menschen inhärenten unverletzbaren Würde finden lassen, kommt es doch immer wieder zu Konflikten, diese auch anzuerkennen. Um diese Konflikte zu verstehen, zieht Ceming zwei bekannte Konzepte aus dem Bereich der kulturellen Bewusstseinsentwicklung (Jean Gebser) und der entwicklungspsychologischen Werteentwicklung (Clare Graves) heran und leitet daraus die Forderung an die Theologien der Moderne ab, ihre heiligen Texte kulturhistorisch zu begreifen und die Grundintention ihrer religiösen Lehren in eine zeitgemäße Form zu übertragen. Joachim Galuska, Facharzt für Psychosomatische Medizin/ Psychiatrie und Psychotherapie, Autor, Unternehmer und Begründer der Stiftung Bewusstseinswissenschaften, erweitert das traditionelle psychologische und psychotherapeutische Konzept von Ich-Identität als Entfaltung von Individualität und Bezogenheit um eine transpersonale Bewusstseinsdimension, die er ‚Seelenbewusstsein‘ nennt und durch Transzendierung zu einem evolutionären Wir-Bewusstsein führt. Unter ‚vertikaler Transzendenz‘ versteht er die Überschreitung eines konzeptionalisierten Ich-Bewusstseins hin zum Unbekannten und Göttlichen. Der wesentliche gegenwärtige Schritt ist der der Vertiefung und Überschreitung der Erwachsenen-Ich-Identität hin zum Bewusstsein unserer Seele in ihrer Tiefe und Weite, von der Vergegenwärtigung hin zur absichtsvollen Evolution. Wilfried Belschner, Professor für Psychologie an der Universität Oldenburg, Gründer des Deutschen Kollegiums für Transpersonale Psychologie, hat in zahlreichen Forschungsprojekten und Initiativen die Bewusstseinswissenschaften vorangetrieben. In seinem Beitrag stellt er die existenzielle Frage: „Welches in mir schlummernde Potential will sich mit Hilfe meines Leibes im Lebensalltag verwirklichen?“ Belschner plädiert mit Nachdruck für einen radikalen Perspektivwechsel in der Begleitung von Menschen als Kunst einer ‚Werdens-Begleitung‘, bei der es – im Unterschied zu den professionellen Angeboten in unserem Gesundheitssystem – nicht um Gesundung zur Fitness geht, sondern um die Entdeckung des eigenen Potentials, um in Anlehnung an Graf Dürkheim zum eigenen Wesen durchzubrechen. Achim Goeres und Tanja Hetzer behandeln in ihrem Artikel die Verflechtungen von persönlichen und kollektiven Traumata und den großen Einfluss, den diese auf die Reaktionen auf aktuelle dramatische Ereignisse haben. Mit dem Rückgriff auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse aus der Physik und Chaostheorie und die Verbindung mit aktuellen Entwicklungen aus der Traumaforschung und der prozessorientierten Psychologie nach Arnold und Amy Mindell entwerfen die Autoren ein eigenes Entwicklungsmodell (N-Prozess®-Moderation). Die daraus entstehende gruppenbezogene Methode SlowFlow ermöglicht es, die Heilung und Transformation komplexer traumatischer Bedingungen bei Einzelnen und in Gruppen zu unterstützen. Ausgelöst durch eine Einladung polnischer Kolleg(inn)en, einen hochschuldidaktischen Kongress zu eröffnen und dabei zukünftige Aufgaben der Universität zu umreißen, entwirft Heinrich Dauber, Erziehungswissenschaftler und Gestalttherapeut, auf dem Hintergrund persönlicher Erfahrungen ausgewählte Bildungsperspektiven, in denen es ihm um die Balance zwischen grundlegenden Polaritäten in der inneren Bewusstseinsentwicklung und der äußeren Realität geht: Freiheit und Verbundenheit, Selbstbegrenzung und Suffizienz, säkulare Werte und Religion, digitales Wissen und persönliche/soziale Gestaltungsmacht, Grundstrukturen einer transformativen Wissenschaft. Der ‚rote Faden‘ seiner Argumentation besteht in dem Versuch, auch angesichts großer Selbstzweifel und trotz vielfältiger Ohnmachtserfahrungen und -gefühle, mögliche Perspektiven persönlicher und sozialer Bewusstseinsentwicklung in den Blick zu nehmen. Für die Grafiken und Kalligraphien danken wir sehr herzlich Frau Uta Berg.

Heinrich Dauber, Markus Hänsel

Veröffentlicht
2016-07-27