Editorial

  • Harald Piron
  • Dorothee Wienand-Kranz
Schlüsselwörter: Editorial

Zusammenfassung

Ursprünglich geplant wurde ein Themenheft mit dem Titel „Dialog der Religionen“. Es war unser Anliegen, mit diesem Heft einen Beitrag zur Überwindung kultureller und religiöser Grenzen zu leisten und die Botschaft des Dalai Lama, „Das Herz aller Religionen ist eins“, quasi bewusstseinswissenschaftlich aufzuarbeiten. In einer Zeit, wo Protektionismus und Rechtspopulismus wieder „in“ sind, „political correctness“ dagegen „out“ und der Brexit der Engländer so gut wie beschlossen ist, wäre vielleicht eine neue Aufklärungswelle von Nöten, die eine Wirklichkeit im Auge hat, die größer, höher und umfassender ist als jedes einzelne Volk, jede einzelne Nation und Kultur, und die eines transpersonalen, transkulturellen und interreligiösen Verständnisses bedarf. Doch da einige Autoren nicht geantwortet oder abgesagt hatten, weswegen diese Ausgabe nun viel später als geplant erscheint, haben wir uns schließlich für eine „gemischte“ Ausgabe entschieden. Interessanterweise erscheinen aber die anderen drei Artikel mit den Themen „Meditation an Hochschulen“, „Erkenntniswege nach Ken Wilber“ und „Jung und Aurobindo“ durchaus passend, denn auch bei ihnen geht es um die Entwicklung eines Verständnisses, das die ethnozentrischen und rationalen, auf Abgrenzung, Trennung und Diskriminierung basierenden Perspektiven transzendiert. Somit überlassen wir es Ihnen, ob es sich um ein Themenheft oder ein gemischtes Heft handelt. Es liegt im Auge des Betrachters. Der Theologe und evangelische Pfarrer Manfred Rompf schlägt religionswissenschaftlich fundierte Brücken zwischen dem Islam und dem Christentum. Er arbeitet wesentliche Gemeinsamkeiten beider Religionen heraus und macht an einigen Textbeispielen der Heiligen Schriften deutlich: Die eigentlichen religiösen Werte, die auf Toleranz, Akzeptanz und Gewaltlosigkeit, Barmherzigkeit und Liebe beruhen, werden von ihren Religionsstiftern als wichtiger erachtet als das gehorsame Befolgen von Regeln. Zum anderen zeigt Manfred Rompf anhand seiner eigenen Projekte auf, wie bspw. dem gemeinsamen Zelebrieren interreligiöser Gottesdienste, dass die scheinbaren Grenzen im Glauben und in der Kultur tatsächlich überwindbar sind. Die sehr gute Resonanz auf diese Angebote beweist, dass es ein tieferes religiöses Bedürfnis nach kultureller Transzendenz gibt, verbunden mit einem Gefühl oder der Erkenntnis, dass Gott zu groß ist, um in nur eine Religion oder Kirche zu passen. Der langjährige Islamkenner und Islamwissenschaftler Peter Heine gibt uns ausführliche Informationen über die Entwicklung des Islam, seine Verbreitung, seine vielen differierenden Ausprägungen, sodass deutlich wird, dass es den Islam gar nicht gibt. Jedoch gibt es für alle islamischen Strömungen einige wenige Grundregeln sowie fünf Glaubenspflichten: „das Bekenntnis zur Einheit Gottes und die Prophetenschaft Mohammeds, das tägliche fünfmalige Pflichtgebet, das Fasten im Monat Ramadan, das Pflichtalmosen und die Pilgerfahrt nach Mekka.“ Die verschiedenen Interpretationen des Koran, an einem Beispiel erläutert, zeigen, dass der Koran eben auch, wie die Bibel, der Auslegung bedarf, selbst wenn einige Gläubige die Suren wörtlich nehmen und damit angstauslösend wirken. Peter Heine macht auch deutlich, wie sehr der Islam sich in einer lebendigen Entwicklung befindet. So geht er u.a. auch der Frage nach, ob es einen „europäischen“ Islam geben kann. In der Betrachtung der islamischen Mystik, dem Sufismus, wird deutlich, wie ähnlich sich die verschiedenen religiösen Strömungen in ihrer jeweiligen Mystik sind. In seinem Beitrag mit dem anspielenden Titel auf die derzeitige politische Situation in Deutschland macht Harald Piron Mut, indem er aufzeigt, wie viel lohnender und wachstumsfördernder es ist, sich der kulturellen Herausforderung zu stellen, die sich durch die Flüchtlinge, die in unser Land gekommen sind und noch kommen werden, ergibt. Er erläutert und hinterfragt das Konstrukt der kulturellen Identität, indem er verdeutlicht, wie veränderlich dieses Konstrukt für jedes Individuum im Laufe seiner Entwicklung ist, aber auch für ein Land, und wie fließend die Übergänge zwischen den Kulturen in der Menschheitsgeschichte waren. In einem weiten Bogen zeigt Harald Piron auf, dass wir alle eine „orientalische Vergangenheit“ haben. Auch auf der biologischen Ebene macht er deutlich, dass wir alle miteinander verwandt sind. Durch die Kommentierung der Phasen der Sozialisation nach McGrath wird so klar, wie veränderlich wir sind, das Leben ist und dass zum Wachstum gehört, sein Bewusstsein zu erweitern, und zwar durch die Auseinandersetzung mit den jeweiligen Herausforderungen. Brigitte Halewitsch, Fachärztin für psychotherapeutische Medizin, stellt uns mit Carl Gustav Jung und Sri Aurobindo zwei Bewusstheitspioniere vor, die nicht nur aus einem unterschiedlichen Kulturkreis kommen – West und Ost –, sondern auch einen sehr unterschiedlichen soziologischen Hintergrund haben: C.G. Jung war Kind eines sehr streng religiösen Pfarrers und einer Mutter aus wohlhabenden Kreisen. Er durchlief eine gymnasiale Schulbildung und studierte Medizin. Sri Aurobindo, indischer Herkunft, wächst dagegen zunächst als Sozialwaise in einem westlichen Kulturkreis auf und wird seine Eltern, die recht früh starben, nie wieder sehen. Während C.G. Jung als Kind und Jugendlicher eher ängstlich war, scheint Sri Aurobindo hochbegabt und recht selbstbewusst sich nur dem zu widmen, was ihm als richtig erschien. Brigitte Halewitsch zeigt beide Lebens- und Entwicklungswege nacheinander auf, vor allem deren berufliche Entwicklungen: C.G. Jung, der das Konzept der Individuation, der Archetypen und des kollektiven Unbewussten entwickelte, und Sri Aurobindo, der politisch sehr aktiv war, sich selbst Yoga beibrachte, ohne Aufforderung Schüler bekam und schließlich die universelle Stadt Auroville gründete. Als Yogalehrerin gibt Brigitte Halewitsch eine ausführliche Einführung in das integrale Yoga, welches Sri Aurobindo praktizierte und lehrte. Obwohl diese beiden Männer sich nie begegnet sind und wohl auch nichts voneinander gehört hatten, gibt es einige Parallelen, die die Autorin herausarbeitet, so etwa der lebenslange Entfaltungsprozess oder die Versöhnung von Gegensätzen und Ausgleich von Einseitigkeiten. Der Diplom-Psychologe Tim Glogner widmet sich in seinem Artikel den integralen Erkenntniszugängen innerhalb der Bewusstseinsphilosophie von Ken Wilber. Er geht detailliert auf die drei Erkenntniswege ein, die dem Wilberschen Modell der „drei Augen“ entsprechen. Während die ersten beiden mit dem vorherrschenden Wissenschaftsparadigma abgedeckt werden, bleibt der dritte, kontemplative Erkenntnisweg meist unberücksichtigt oder wird als unwissenschaftlich abgetan. Doch nur er ist imstande, die „tiefere oder höhere oder weitere Struktur oder Ordnung oder Intelligenz“ des Universums unmittelbar zu schauen, die in den verschiedenen Religionen unterschiedlich benannt wird. Relevant für eine Überwindung kulturell-religiöser Schranken ist bei Wilber also vor allem das „kontemplative Auge“. Dieses zusammen mit den beiden anderen bildet in ihrem „wechselseitig bereichernden Miteinander“ die Basis für eine integrale Wissenschaft. Wie viel ein einzelner engagierter und beseelter Hochschullehrer bewirken kann, zeigt Andreas de Bruin in seinem Bericht über das von ihm entwickelte Münchner Modell. Seit 2010 bietet er an der Hochschule München sowie an der Ludwig-Maximilian-Universität München Kurse und Seminare in der Rubrik „Achtsamkeit und Meditation“ an, und zwar in Zeiten der streng durchgetakteten Bachelor- und Masterstudiengänge. In seinem Artikel beschreibt er die Anfänge, den enormen Zulauf, die Erweiterung seines Angebotes, auch Technisches wie Räume, Materialien. Inzwischen gibt es etliche Forschungsarbeiten in den unterschiedlichen Fachbereichen, so auch Filme. Andreas de Bruin hat eine umfangreiche Bibliothek erstellt, die auch überregional über Fernleihe genutzt werden kann. Sein Modell wird auch in der Presse wahrgenommen. Die Transparenz seines Vorgehens ermöglicht es sehr gut, sein Modell nachzuahmen. Wir hoffen sehr, dass Sie diese Ausgabe inspiriert und für die Verspätung entschädigt.

Harald Piron und Dorothee Wienand-Kranz
 

Veröffentlicht
2017-07-29