Editorial
Zusammenfassung
Liebe Leserin, lieber Leser,
diese Ausgabe war ursprünglich als gemischtes Heft angedacht worden, aber wie es sich im Laufe der Entstehung ergeben hat, werden alle Beiträge von einem zentralen Thema durchzogen und durchstrahlt: der Selbstwerdung. Wir befinden uns alle irgendwo auf dem Weg der Individuation, psychologisch gesprochen: der Selbstrealisierung, kollektiv gesehen: der Menschwerdung. Auf diesem Weg geht es nicht darum, jemand anderer zu werden, sondern eben genau das, was wir wirklich sind. Dieser Weg des Erwachens ist auch immer zugleich ein Weg der Befreiung und Transformation: Befreiung von dem, was uns hindert, unsere wahre Natur zu erkennen und zum Ausdruck zu bringen, und Transformation der Energie, die in Schattenanteilen erstarrt, verzerrt, eingefroren oder eingebunden ist.
Die ersten vier Beiträge zeigen Ansätze der Selbstwerdung für das Individuum auf. Sie sind alle irgendwie verwandt, aber doch auch recht unterschiedlich. Die nächsten beiden Beiträge beleuchten das Kollektive, weisen in Richtung „Selbstwerdung der Menschheit“ und machen deutlich, wie wir alle daran teilnehmen und auf das kollektive Unbewusste zurückwirken. Das Heft endet, wie es begonnen hat, nämlich mit einem christlich-mystischen Essay.
Der Benediktinermönch Anselm Grün belebt mit seinem Beitrag die kontemplative Tradition der christlichen Mystik, die nicht nur in ihrem essenziellen Sinn, sondern auch in ihren Meditationsarten und teilweise auch sprachlichen Formulierungen einige Ähnlichkeit mit östlichen Wegen wie beispielsweise dem Advaita-Vedanta oder Zen-Buddhismus aufweist. Anhand von Texten der Wüstenväter und Bibelversen beschreibt Anselm Grün den Weg der Selbstwerdung, zieht dabei Analogien zur Psychologie von C. G. Jung und gibt Übungsbeispiele aus seinen Seminaren, die sich einfach umsetzen lassen und deutlich machen, worum es bei diesem Weg geht. Interessant ist, dass hier aus einer religiösen Tradition geschöpft wird, der Weg aber aus ihr heraus zu einem gleichsam universellen wie individuellen Wesenskern hinführt, der alle Traditionen transzendiert.
Wie eine mystische Reise in die Wüste heutzutage aussehen kann, präsentiert Bettina Specht. Sie macht den zeitlosen Hauch der Ewigkeit, von dem die Wüstenväter künden, in eben diesem Umfeld erlebbar: In der Weite der Wüste kann die „Trockenheit der Sinne“ erfahren werden, ohne dass die Teilnehmenden des Retreats körperlich austrocknen müssen. Auch in diesem Beitrag geht es um die Selbstwerdung, so individuell, wie es eben nur geht. Die Autorin lässt dabei ihr Wissen aus verschiedenen Traditionen einfließen, einschließlich der biodynamischen Körperpsychotherapie von Gerda Boyesen, in der sie ausgebildet wurde und auch selbst therapiert und unterrichtet. Die Autorin veranschaulicht an einigen Beispielen, wie die Weite der Wüste, die raumgebende Präsenz und ihre Aufmerksamkeit als menschliche Begleitperson Prozesse der Selbstrealisierung ermöglichen, in der meditative und körperpsychotherapeutische Aspekte zusammenfließen.
Fritjof Paulig widmet sich (buddhistisch gesprochen) den Aggregaten der menschlichen Existenz, zu denen neben dem physischen Körper auch drei feinstoffliche Körper sowie die alle vier durchdringende Gedächtnisstruktur gehören. Er zeigt ein Bild auf, das mit einfachen Mitteln einen Kreis der Ganzheitlichkeit zeichnet, in dessen Mitte das Selbst steht. Dieses Bild füllt er auf lebendige, anschauliche Weise mit Beispielen. Es handelt sich hierbei um einen einleitenden Vortrag, mit dem er seinen Workshop im Rahmen der Tagung „Lust am Unsichtbaren – Feinstoffliche und spirituelle Dimensionen in der Körperpsychotherapie“ im Oktober 2023 begonnen hat, derselben Tagung, der auch der Vortrag von Bettina Specht als Eröffnungsreferentin entnommen wurde.
Der Reinkarnationstherapeut Horst Leuwer ergänzt die diesseitige Perspektive, indem er bei der Betrachtung der Prägungen, Programmierungen und Glaubenssätze, von denen eine Befreiung angestrebt wird, nicht nur dieses Leben, sondern auch frühere Inkarnationen miteinbezieht. Die Beispiele aus seiner Praxis dokumentieren die Fähigkeit des Unterbewusstseins, solche früheren Erinnerungen aufsteigen zu lassen und freizugeben, sodass aus einem transbiografischen Verständnis heraus das Ablegen von alten, sich ständig wiederholenden Mustern gelingen kann. Wenn nicht nur dieses Leben aus Konditionierungen, karmischen Wechselwirkungen und Kreisläufen besteht, sondern ganze Reinkarnationszyklen in Kreisen verlaufen, so muss man sich nicht wundern, wenn einem immer wieder die gleichen oder ähnliche Lektionen erteilt werden, bis man sie verstanden und daraus gelernt hat. Leuwer erklärt anhand der Fallbeispiele in sehr komprimierter Weise, welche Erkenntnis- und Befreiungsprozesse sich auf welche Weise ereignen können, wenn dem Bewusstseins-, Erinnerungs- und Erlebnishorizont Raum gegeben wird, über die Grenzen dieser aktuellen Inkarnation hinauszugehen.
Roberto Assagioli, dessen Todestag sich im August 2024 zum 50. Mal jährt, widme ich meinen Artikel „Psychosynthese der Nationen“. Aufgrund dieses bedeutsamen Anlasses – schließlich ist er einer der ersten Gründungsväter der transpersonalen Psychologie und Psychotherapie – und auch aufgrund der „Größe“ des Themas fällt dieser Artikel etwas länger aus. Es geht dabei um die Menschwerdung, um die Selbstwerdung des Menschheitsorganismus. Welche Rolle spielt jede, jeder Einzelne dabei? Wie können wir mit globalen Krisen umgehen, was können wir daraus lernen, anstatt uns ohnmächtig zu fühlen? Welche Potenziale der Selbsterkenntnis und Psychosynthese stecken in weltpolitischen Angelegenheiten?
Weiter in dieser Richtung geht es mit einem Beitrag von Margret Rueffler, der Gründerin des PsychoPolitical Peace Institute, der sich mit den Fragen der Prävention von Kriegen beschäftigt. Die zentrale Frage lautet: Wie kann Kriegen vorgebeugt werden? Es handelt sich dabei um Auszüge aus ihrem Buch Das schlafende Potenzial einer Nation, die sich aber in diesem Fall auf die ganze Menschheit, ihre Geschichte und Zukunft beziehen. Auch hier spielt das Selbst – als innere Mitte – die im wahrsten Sinne des Wortes „zentrale“ Rolle.
Wie das Heft begonnen hat, so soll es auch mit der christlichen Mystik enden. Der letzte Beitrag ist einem christlichen Mystiker des reformierten Pietismus gewidmet, Gerhard Tersteegen. Am bekanntesten dürften seine beiden Kirchenlieder „Ich bete an die Macht der Liebe“ und „Gott ist gegenwärtig“ sein. Letzteres beinhaltet den Pfad der Kontemplation in drei Stufen, den Pfarrer Ralf Boge aus dem Liedtext eindrucksvoll herausarbeitet.
Die Zwischentexte sind passend zu den Beiträgen gewählt und platziert. Eine letzte Lücke wurde ganz am Ende durch ein recht bekanntes Gedicht von Hermann Hesse gefüllt, das auf der Doppelkarte stand, die mir seine Enkelin gerade per Post zuschickte. Der Zufall will es, dass es dort genau hinpasst.
Ich wünsche Ihnen eine inspirierende Frühsommer- und Lesezeit!
Harald Piron