Editorial

  • Markus Hänsel
  • Liane Hofmann
  • Dorothee Wienand-Kranz
Schlüsselwörter: Editorial

Zusammenfassung

Liebe Leserinnen und liebe Leser,
in dieser Ausgabe wollen wir uns dem Themenfokus Embodiment widmen – ein englischer Begriff, der sich auch im deutschsprachigen Raum für den umfassenden Bezug zu allem, was wir als körperlich, physiologisch, somatisch bezeichnen, etabliert hat. Dass die Bedeutung des dem Menschen unmittelbarsten Erlebensraums, nämlich der körperlichen Erfahrung, letztlich durch die enormen Fortschritte des komplexen Forschungsfeldes der Neurobiologie erfolgte, zeigt wohl, wie eng sich wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung und gesellschaftliche Akzeptanz wechselseitig beeinflussen. Vielleicht können wir in dieser Bewegung eine weitere postmoderne Auseinandersetzung mit dem in unserer Kultur entstandenen und immer noch vorhandenen Leib-Seele Dualismus erkennen. Dabei ist der Bezug zum Körperlichen in den Disziplinen der Medizin, der Psychotherapie und der spirituellen Praxis seit jeher gegeben. Im vorliegenden Themenheft stellen die Autorinnen und Autoren verschiedene Ansätze dar, diese Kluft zu überbrücken und körperliche, seelische, kommunikative und letztlich gesellschaftliche Prozesse in deren untrennbarer Verbindung zu sehen und zu behandeln.
Der erste Beitrag dieser Ausgabe, verfasst von Michael Heinrich und Niko Kohls, bildet den Einstieg in unser Schwerpunktthema Embodiment. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist die stetig zunehmende Verlagerung von Prozessen der Wissensvermittlung und des kommunikativen Austauschs in den digitalen Raum. Derartige Entwicklungen sind in verschiedensten pädagogischen, beruflichen und gesellschaftlichen Kontexten in den letzten Jahren stark vorangetrieben worden. Hierzu haben auch die situativen Bedingungen der Coronapandemie maßgeblich beigetragen. Als Lehrende an der Hochschule Coburg erarbeiten die beiden Autoren eine fachlich informierte Positionierung hinsichtlich der aktuell kontrovers diskutierten Frage nach dem Stellenwert von digitalisierter Distanzlehre und Formen des Blended Learning in Relation zur analogen Präsenzlehre. Die Argumentationslinie beruht auf einer sorgfältigen Analyse der Vor- und Nachteile der jeweiligen Lehr- und Lernformen ebenso wie auf lern- und sozialpsychologischen Theorien, kognitionswissenschaftlichen Embodimenttheorien und empirischen Forschungsbefunden zum Thema. Für den Leser, die Leserin wird schnell einsichtig, dass ganzheitliche Lernerfahrungen und -prozesse auf einer Vielzahl miteinander vernetzter emotionaler, motivationaler, psychosozialer und körperlich-physikalischer Erfahrungskomponenten beruhen. Der physische Körper und die körperhafte Erfahrung im (Sozial-)Raum spielen dabei eine zentrale, nicht zu vernachlässigende Rolle.
Der Artikel von Ute Brandorff untersucht den Unterschied zwischen dem klassischen Kommunikationsverständnis, das meist nach dem Sender-Empfänger-Prinzip funktioniert, und verschiedenen Ansätzen, die auf dem Prinzip der Embodied Communication basieren. Dabei spielen die Faktoren Präsenz, Körpergewahrsein und Bezogenheit mit Blick auf intra- und interpersonelle Interaktionen sowie die jeweilige Situiertheit eine wesentliche Rolle. Es wird dabei gezeigt, wie sich auf Basis dieser Konzeptualisierung von Kommunikation spezifische Praktiken ableiten, bewusst anwenden und trainieren lassen.
Klaus Blaser stellt in seinem Beitrag das psychotherapeutische Verfahren der dreidimensionalen Grenzvisualisierung (3-DGV) vor, durch das es dem Patienten ermöglicht wird, sich seines psychischen Innenraums einschließlich der derzeitigen Ich-Grenze bewusst zu werden und sie falls erforderlich umzugestalten. Diese Art des therapeutischen Arbeitens wirkt sich sowohl auf das psychische Wohlbefinden des Patienten aus als auch auf dessen Beziehung zur Um- und Mitwelt. Mithilfe von Holzklötzchen – ein höheres für sich selbst und acht weitere für die Darstellung der Ich-Grenze – stellt der Patient seine Ich-Grenze und ihr gegenüber die eigene Ich-Position auf, wodurch sie für Patient und Therapeut sicht- und erlebbar werden. Der therapeutische Zugang beruht auf einem achtsamen, nicht zielgerichteten und prozessorientierten Vorgehen. Das Verfahren der 3-DGV erlaubt es, verschiedene mentale Zustände und Perspektiven erfahrbar zu machen und therapeutisch zu nutzen. Neben der Arbeit in der Horizontalen beinhaltet das Vorgehen insofern auch einen transpersonalen Aspekt, als das Holzklötzchen, das für die Ich-Persönlichkeit steht, auch in der Vertikalen bewegt werden kann. Erste Forschungsbefunde belegen einen entsprechenden Effekt im Sinne von transpersonal-transzendenten Qualitäten, die bei vertikaler Bewegung im Erleben des Aufstellenden auftauchen.
Mit dem Begriff der nervensystemsensiblen Systemik knüpft David Schubert in seinem Artikel die Brücke zwischen systemischer Theorie und Beratungspraxis mit stärker körperorientieren Ansätzen wie Somatic Experiencing und der Polyvagal-Theorie, die in der Traumatherapie angewendet werden. Auf dem systemtheoretischen Hintergrund der fundamentalen Bedeutung der Selbstorganisation des menschlichen Nervensystems und den daraus abgeleiteten Konsequenzen entwirft der Autor eine umfassende Konzeptualisierung von Wirkfaktoren für Psychotherapie und Beratung. Im Spannungsfeld von Bezogenheit und Individuation lassen sich symptomatische Entwicklungen wie Symptome und Traumata als Teil einer größeren Bewegung eines sich kontinuierlich entwickelnden emergenten Prozesses des Organismus betrachten. Damit fokussiert der therapeutische Ansatz darauf, diesen Prozess der Differenzierung und Integration wieder in den Fluss zu bringen. Die bewusste und achtsame Körperwahrnehmung sowohl für den Begleitenden als auch den Patienten spielt dabei eine zentrale Rolle.
Klaus Renn stellt der Leserin, dem Leser in seinem Artikel den Ansatz des Focusing auf eine erfahrungsorientierte Weise vor. Focusing wurde von Eugene Gendlin als eine auf dem theoretischen Fundament der Phänomenologie beruhende Praxis entwickelt, die in verschiedenen Bereichen der Psychotherapie, Beratung und anderer Kommunikationsformen eingesetzt wird. Zentral dabei ist, das umfassende Körpergewahrsein, den sogenannten Felt Sense, in den verschiedenen Erlebensmodalitäten wie Körpersensationen, Emotion, Kognition, Visualisierungen zu erfahren. Mit dieser Richtschnur eröffnen sich dem achtsam Erlebenden in Veränderungsprozessen neue Perspektiven sowie neue Zugänge zu Lösungen. Klaus Renn lädt die Lesenden dabei ein, kleine Übungen zum Erleben des Felt Sense direkt auszuprobieren, um so einen unmittelbaren Eindruck von Focusing selbst zu erfahren.
Eine besondere Art der Kommunikation stellt Susanne Bender mit dem „Formfluss“ vor. Unter Formfluss wird der spontane Körperausdruck eines Menschen verstanden, anhand dessen sein Gegenüber „erkennen“ kann, wie sich dieser Mensch gerade fühlt. Im Alltag kennen wir dieses intuitive Wahrnehmen, ob sich jemand wohlig ausstreckt oder ängstlich zusammenkrümmt. Der Beitrag beschreibt zunächst die frühkindlich angelegten basalen Bewegungsmuster unseres Körpers in verschiedenen räumlichen Dimensionen. Zahlreiche Fotos veranschaulichen die theoretischen Ausführungen. Im therapeutischen Setting können die achtsame Wahrnehmung und Analyse des körperlichen Formflusses des Patienten als eine feinsinnige Form der Diagnostik genutzt werden, die Auskunft gibt über dessen Befindlichkeit und interaktive Bedürfnisse. Eine feinfühlige Reaktion und Spiegelung der nonverbal geäußerten Bedürfnisse des Patienten durch den Psychotherapeuten kann Vertrauen auslösen und Wachstumsimpulse freisetzen, vielleicht vergleichbar mit der Bedeutung des feinfühligen Reagierens auf die Bedürfnisse eines Kindes im Rahmen der Bindungstheorie.
Bleibt nun nur noch, Ihnen eine anregende Lektüre zu wünschen.

Markus Hänsel, Liane Hofmann, Dorothee Wienand-Kranz

Veröffentlicht
2023-07-01