Editorial

  • Harald Piron
  • Thilo Hinterberger
Schlüsselwörter: Editorial

Zusammenfassung

Auf den neuen Titel unserer Zeitschrift – „Bewusstseinswissenschaften“ –, den wir seit dem zweiten Halbjahr 2011 führen, reagierten einige unserer Leser mit Skepsis und Bedenken, da sie eine zunehmende Betonung von Theorie und Forschung
befürchteten, andere mit Zustimmung und Begeisterung, weil der breite, multidisziplinäre Rahmen unserer Zeitschrift nun eine weniger fakultätsgebundene Bezeichnung erhält. Die Durchlässigkeit der Grenzen zwischen den verschiedenen Geistes- und Naturwissenschaften wird betont und ihr gemeinsamer Nenner – als Hintergrund und Basis von „Wirklichkeit“, der die Grundlage und Voraussetzung für alle Erkenntnisprozesse geistiger und empirischer Art bildet und diese bedingt – wird nun selbst zunehmend zum Forschungsgegenstand eben dieser Wissenschaften: das Bewusstsein. Das vorliegende Heft fokussiert kein spezielles Schwerpunktthema, sondern
bietet einen repräsentativen Einblick in die Bandbreite der Bewusstseinswissenschaften. Im Zentrum steht das Bewusstsein selbst; ferner geht es um die gesundheitlichen, kulturellen, ethischen, spirituellen, „quantenphilosophischen“ und anwendungsbezogenen Aspekte in seinen verschiedenen Kontexten. In den vergangenen Jahren 2011 und 2012 wurden vom Forschungsbereich Angewandte Bewusstseinswissenschaften des Universitätsklinikums Regensburg in Zusammenarbeit mit der Stiftung Bewusstseinswissenschaften zwei Symposien veranstaltet. Bisher wurden nur wenige der Beiträge dieser Veranstaltungsreihe veröffentlicht, obgleich das Interesse daran deutlich geworden ist. Daher haben wir uns entschieden, den Vortrag von Hinderk Emrich von 2011 sowie die Beiträge der Wissenschaftsforen des Symposiums 2012 gesammelt in diesem Band in komprimierter Form anzubieten. Wie bisher wird bei der Artikelauswahl Wert auf ein ausgewogenes Verhältnis von Theorie, Anwendung und Forschung gelegt, wobei die klassischen Trennungen zwischen ihnen ebenso (zunehmend) überwunden werden wie die fakultätszentrischen Blickwinkel der traditionellen Natur- und Geisteswissenschaften. Es wird auch deutlich, dass die transpersonale Dimension des Bewusstseins immer implizit enthalten ist und auf allzu kopflastige, oftmals als künstlich empfundene Abgrenzungen gegenüber dem sog. „Personalen“ verzichten kann. Der Beitrag von Emrich fokussiert auf das Bewusstsein als eine allen Wissenschaften zugrundeliegende, implizit oder explizit vorausgesetzte, unverzichtbare Wirklichkeit, die sich in jeglichem Wahrnehmen, Erkennen, Forschen und Interpretieren ausdrückt. In seiner Fähigkeit zur Selbsterkenntnis und Selbstreflektion weist es auf sich selbst zurück und erkennt sich als teilhabendes Subjekt in den verschiedenen Kontexten des Wahrnehmens und Forschens. Das Konstrukt einer objektiven Wirklichkeit, die das Subjekt bzw. das Bewusstsein ausklammert, wird hinfällig. Horst Werner Peschel beschäftigt sich mit dem eher nicht-alltäglichen, aber dennoch weit verbreiteten Phänomen der Nah-Tod-Erfahrungen (NTE). Er berichtet über die verschiedenen Aspekte solcher Erfahrungen und des Umgangs damit aus der Perspektive des begleitenden Therapeuten und macht damit deutlich, wie heilsam ein vorurteilsfreier, wertschätzender und transpersonal offener Blickwinkel für den Klienten sein kann. Die Notwendigkeit eines neuen Paradigmas, das sich nicht länger der ausschließlichen Definition von Wirklichkeit über das Kriterium materieller Nachweisbarkeit verpflichtet fühlt, wird leicht nachvollziehbar. Einem ebenso praktischen, aber mehr politischen Thema der Bewusstseinswissenschaften widmet sich Anselm Grün, wenn er die Notwendigkeit der gegenseitigen, verbindenden Beziehungen zwischen Politik, Ethik und Spiritualität betont und von Politikern fordert, sich auf eine spirituelle und ethische Grundlage zu stützen. Einen besonderen Stellenwert erhält dabei die spirituelle Erfahrung, die aber nie in einer narzisstischen Selbstbezogenheit oder einem weltabgewandten Rückzug stecken bleiben dürfe, sondern ihren Sinn in einem aktiven Beitrag zur Gesellschaft zu erfüllen habe. Wie eine Politik aussehen würde, die von Menschen mit spirituellen Erfahrungen gemacht würde, die ethische Werte nicht nur predigen, sondern auch leben, lässt sich nur erahnen. Mit der Notwendigkeit und den konkreten Schritten eines wissenschaftlichen Paradigmenwechsels setzt sich Thilo Hinterberger auseinander. Eine auf „objektive“ Fakten reduzierte Praxis des Forschens und Weitergebens von Wissen wird entlarvt als eine problematische Vorgehensweise, weil sie das eigentlich Menschliche, das Subjektive, ignoriert, und zwar sowohl beim Forscher wie auch beim Rezipienten. Eine bewusstseinswissenschaftliche Perspektive dürfe die wechselseitige Beeinflussung bzw. untrennbare Verbindung zwischen Forscher und Forschungsgegenstand, zwischen Subjekt und Objekt (oder „Gegenüber“), zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenem (oder „Gemessenem“) nicht als Fehlerquelle oder Störvariable herabwürdigen, sondern müsse diese Beziehung als eine essenzielle Wirklichkeit berücksichtigen, wertschätzen und bei der Weitergabe von Wissen (an die Rezipienten) auch nutzen. Das bewusste Realisieren von Wechseln zwischen den Kategorien, die der Erfahrung und der Messgrößen zugrunde liegen, wie auch eine empathische Haltung des Forschers spielen bei diesem Paradigmenwechsel eine wesentliche Rolle.
Harald Piron und Thilo Hinterberger

Veröffentlicht
2013-07-18