Editorial

  • Liane Hofmann
Schlüsselwörter: Editorial

Zusammenfassung

Liebe Leserinnen und Leser,

den Beiträgen, die Sie in dieser Ausgabe vorfinden, gemeinsam ist die Frage, wie sich individuelle und gesellschaftliche Prozesse der Heilung und Transformation unterstützen lassen. Was kann dazu beitragen, unseren Kontakt zu uns selbst und dem größeren Ganzen, in das wir eingebettet sind, zu stärken und weise Entscheidungen zu treffen? Somit stehen die Beiträge dieser Ausgabe ganz in der Tradition einer angewandten Bewusstseinswissenschaft.

Joachim Galuska hatte diese Zeitschrift im Jahr 1995 unter dem Titel Transpersonale Psychologie und Psychotherapie gemeinsam mit Edith Zundel gegründet und war viele Jahre lang deren Mitherausgeber. Dabei war ihm stets der Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis und in alle Felder der Gesellschaft ein Anliegen, um gemeinsam an der Vision von heilsamen Formen der Co-Kreativität zu arbeiten, in der alle Daseinsformen im Netzwerk des Lebens miteinbezogen sind. Im vorliegenden Beitrag „Das Potenzial der Achtsamkeit“ kommt am Beispiel der Achtsamkeit die beeindruckende Reichweite seines Denkens und seiner Vision zum Ausdruck. Schritt für Schritt nimmt er den Leser mit auf eine Erkundungsreise des immer noch tiefer und weiter reichenden Wandlungspotenzials der Achtsamkeit. Dabei wird sehr schnell deutlich, wie oberflächlich und vorläufig die zurzeit in den westlichen Gesellschaften populären Rezeptionen und Anwendungsformen von Achtsamkeit – bei allem Respekt für deren positive Wirkungen – doch sind. Die Achtsamkeit, die Galuska uns vor Augen führt, reicht von einem ersten Erwachen des achtsamen Gewahrseins über die Öffnung und Vertiefung unseres „Weltinnenraums“ bis hin zur nondualen Vergegenwärtigung und auf kollektiver Ebene zur Entwicklung einer „Kultur der Achtsamkeit“. Alle diese Prozesse münden schließlich ein in eine Spiritualität des Lebens, die zutiefst mit dem Leben verbunden ist und dieses in seiner ganzen Fülle bewusst vergegenwärtigt. Der Beitrag verdeutlicht somit nicht zuletzt das Potenzial, das einer Erkenntnis der Grundstrukturen des Bewusstseins und der individuellen und kollektiven Anwendung dieser Erkenntnisse innewohnt.

Vivian Dittmar, Gründerin der „Be the Change Stiftung für kulturellen Wandel“, stellt in ihrem Beitrag das theoretische Modell des inneren Navis vor. Zentrales Anliegen dieses Modells ist die Neubewertung und Einordnung des rationalen Verstandes im Kontext der transrationalen Disziplinen – der Intuition, der Inspiration, der Herzintelligenz und der Absicht. Der Beitrag öffnet den Blick dafür, dass es neben der in unserer modernen westlichen Kultur äußerst hohen Bedeutsamkeit des rationalen Verstandes noch gänzlich andere Formen der Intelligenz und Erkenntnisgewinnung gibt. Diese sind in ihrer Bedeutsamkeit als Einzelfunktionen sowie in ihrem wechselseitigen Miteinander durch wissenschaftliche Forschung bei Weitem noch nicht erschöpfend ausgelotet. Eine wissenschaftlich-fachliche Auseinandersetzung mit diesen psychischen Funktionen wird zudem dadurch erschwert, dass hinsichtlich der verwendeten Begrifflichkeiten und ihrer Definition eine hohe Diversität vorzufinden ist. Diese verschiedenen „Disziplinen des Denkens“, wie Dittmar sie nennt, besser zu verstehen und bewusster einzusetzen, kann dazu beitragen, den Kontakt zu uns selbst sowie zu unserer Um- und Mitwelt insgesamt bewusster, sensibler, intelligenter und damit letztendlich in einer Weise zu gestalten, die uns und dem Leben dient. Der Beitrag regt dazu an, das Potenzial, das im Wechselspiel und fruchtbaren Miteinander von verschiedenen Erkenntniswegen liegt, besser zu verstehen und diese Erkenntniszugänge bewusst und koordiniert anzuwenden. Überdies trägt er zu einem besseren Verständnis von aktuell beobachtbaren gesellschaftlichen Konfliktkonstellationen zwischen Anhängern gesellschaftlicher Gruppierungen bei, deren Weltzugang einseitig durch jeweils unterschiedliche Erkenntniszugänge dominiert wird.

Dennis Johnson, Tibet- und Buddhismuskundler sowie Kursleiter für achtsamkeitsbasierte Verfahren, nimmt in seinem Beitrag eine vergleichende aktuelle Bestandsaufnahme zweier einflussreicher zeitgenössischer Strömungen mit spirituellem Konnex vor: die Achtsamkeitsbewegung und die transpersonale Psychologie. Er analysiert diese im Hinblick auf ihr Selbstverständnis, gemeinsame Wirkprinzipien ihrer Anwendungen, transkulturelle Assimilierungs- und Transferprozesse sowie die kulturspezifischen Ausprägungen (und Verzerrungen) in ihren traditionellen und modernen Kontexten. Schließlich diskutiert er diese beiden Strömungen im Hinblick auf ihr Potenzial, Lösungen für aktuelle soziale, politische und ökologische Problemfelder zu erschließen und anstehende Transformationsprozesse zu unterstützen. Damit dies gelingen kann, bedarf es einer Auseinandersetzung mit einigen anhaltenden Kritiken dieser beiden Strömungen und den möglichen Lösungsansätzen für die benannten Problemlagen. Der Autor erörtert kenntnisreich den aktuellen Stand sowie die Entwicklungs- und Assimilierungsprozesse, die die transpersonale Psychologie und die Achtsamkeitsbewegung durchlaufen haben in ihrem Bemühen, Wissens- und Praxisbestände aus spirituellen Traditionen mit einem modernen wissenschaftlichen Selbst- und Weltverständnis in Einklang zu bringen. Damit ist dieser Beitrag sehr zu begrüßen im Sinne einer Reflexion und fortlaufenden Diskussion des aktuellen Standes sowohl der Achtsamkeitsbewegung als auch der transpersonalen Psychologie.

Das Bewusstsein und die wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber, wie tiefgreifend und anhaltend traumatische Ereignisse ihre Spuren nicht nur in der Psyche, sondern auch im Körper einschließlich Nervensystem und Gehirn hinterlassen, ist in den letzten Jahrzehnten enorm gewachsen. Daraus ist mittlerweile eine wachsende Zahl von körperorientierten traumatherapeutischen Ansätzen hervorgegangen. In der letzten Ausgabe wurde bereits Somatic Experiencing als eines dieser Verfahren dargestellt. Die Psychotherapeutin und Yogalehrerin Regina Weiser und die Sozialpsychologin und Yogalehrerin Anika Meckesheimer führen die Leser nun in einen weiteren dieser Ansätze ein: das traumasensible Yoga. Traumasensibles Yoga verbindet den Erfahrungsschatz der indischen Yogatradition mit den Erkenntnissen der westlichen Psychotherapie und Psychotraumatologie. Auf der Grundlage einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung kann achtsam spürendes Gewahrsein hinsichtlich körperlicher und psychischer Prozesse entwickelt und damit der Weg bereitet werden für eine (Wieder-)Verbindung mit dem Körper, Resilienz sowie posttraumatische Heilungs- und Wachstumsprozesse. Der Beitrag erläutert die dieser Arbeit zugrunde liegenden Prinzipien und lässt mithilfe von anschaulichen Fallbeispielen erkennbar werden, wie diese in der praktischen Arbeit ihre Wirkungen entfalten können. Dabei sind viele der vorgestellten Übungen auch in alltäglichen Situationen und bei diversen psychosomatischen Störungen anwendbar.

Der abschließende Beitrag widmet sich der Frage nach den Möglichkeiten der Einbeziehung der spirituellen Dimension in die Behandlung von schwerwiegenden körperlichen Erkrankungen – hier am Beispiel von Krebserkrankungen. Die theoretische Diskussion und Entwicklung entsprechender Praxisansätze einer Einbeziehung der spirituellen und religiösen Dimension bei psychischen Störungen und körperlichen Erkrankungen ist in den letzten beiden Jahrzehnten stetig vorangeschritten und mittlerweile sind derartige Ansätze unter dem Begriff „Spiritual Care“ auch im Klinikalltag zunehmend etabliert. Der praxisorientierte Beitrag gibt einen Einblick in entsprechende Konzepte und Ansätze mit Fokus auf psychologisch- psychotherapeutische Perspektiven. Bleibt mir nur, Ihnen reichlich Lesegenuss, Erkenntnisse und Inspiration zu wünschen!

Liane Hofmann

Veröffentlicht
2021-06-01