Editorial

  • Thilo Hinterberger
  • Nike Walter
Schlüsselwörter: Transformierende Bewusstseinsprozesse

Zusammenfassung

Man kann beobachten, dass unsere Psyche, unser Bewusstsein sich im Laufe des Lebens nicht kontinuierlich ändert, sondern dass, hervorgerufen durch bestimmte Ereignisse und Lebenssituationen, sprunghafte Veränderungen und Entwicklungsschritte auftreten können. So sind seelische Transformationsprozesse möglich, die nicht dem Gesetz einer durch stetige Übung erlangten Konditionierung folgen, sondern die in einem intensiven Erleben dauerhaft prägend sein können. Solche transformierenden Prozesse wurden traditionell bereits in alten Kulturen im Rahmen von Ritualen induziert, beispielsweise durch Initiationsrituale, asketische Übungen oder religiöse Kulthandlungen bis hin zu Sterberiten. Dabei bilden Ekstase, Tanz, Musik, Rhythmus, symbolhafte Handlungen, soziale Ereignisse, extreme Bedingungen, aber auch Einsamkeit, Askese und Rückzug eine wesentliche Komponente für das transformierende Moment. Einige dieser alten Prozesse werden auch heute noch kraftvoll praktiziert. Ein Beispiel dafür ist das Schwitzhüttenritual, das noch nahe an die Tradition angelehnt ist. Hier wirken die Elemente der Hitze, der Dunkelheit, der Gemeinschaft, der rituellen, symbolisch aufgeladenen Handlung und der spirituellen Ausrichtung zusammen. In diesem außergewöhnlichen Setting sind sowohl tiefgehende Erfahrungen und Erkenntnisse möglich als auch Zustände der Glückseligkeit und Transzendenz. Die Wirkweisen dieser Prozesse sind sehr vielschichtig und wissenschaftlich noch nicht ausreichend untersucht, um die Zusammenhänge verstehen zu können. Interessante Erkenntnisse liefert jedoch die Neurobiologie, insbesondere im Hinblick auf endokrinologische Prozesse, die wie körpereigene Drogen wirken können und so veränderte Bewusstseinsfunktionen hervorrufen mögen. Noch wesentlicher ist jedoch das therapeutische Potenzial von transformierenden Prozessen. Gerade in psychosomatischen Behandlungskonzepten finden wir zahlreiche Interventionen, deren transformierende Wirkung tagtäglich in den entsprechenden Kliniken zu beobachten ist. Genannt seien hier beispielsweise Prozesse der Körperpsychotherapie wie Rhythmus- und Tanztherapie, Bonding, Rolfing, systemische Aufstellungsarbeit, Atemtherapien, Yoga sowie Prozesse aus der Gestalttherapie. Das Spektrum ist sehr reichhaltig und kann daher hier nur angedeutet werden.

In dieser Ausgabe haben wir versucht, einige sehr wirkungsvolle transformierende Bewusstseinsprozesse vorzustellen, aber auch Hintergründe für die individuelle Bewusstseinstransformation zu liefern. Somit knüpft dieses Heft an die vorausgehende Ausgabe 2/2021 an, in der es um kollektive Transformation ging.

Wir beginnen daher zunächst mit einem Beitrag von Lotte Hartmann-Kottek, der mit großer psychotherapeutischer Kompetenz und Analytik aufzuzeigen vermag, wie das sogenannte „Böse“ zustande kommt und schließlich auch erlöst und transformiert werden kann. Dies kann gerade im Hinblick auf aktuelle Ereignisse wichtige Hinweise zum Verständnis liefern.

Daran schließt sich der Beitrag von Saskia John an, die in einer wunderbar anschaulichen Weise die Erlebensvielfalt von mehrtägigen Dunkelretreats zu schildern vermag. Hier wird deutlich, dass wesentliche Bewusstseinsveränderungen durch das Wegnehmen sensorischer Reize und auch Aktivitäten unwillkürlich hervorgerufen werden können.

Hingegen kann auch der gezielte Einsatz von Klängen und Rhythmen unterstützend in transformativen Prozessen sein. Die Wirkweisen und einige bewusstseinswissenschaftliche Hintergründe zeigt der Beitrag von Thilo Hinterberger und Christina Koller auf. Auch wird deutlich, dass der Verzicht auf das Sehen, wie im Dunkelretreat, und die Hinwendung zum Hören ähnliche Wirkaspekte besitzen: Der Aufmerksamkeitsfokus wendet sich ab vom faktisch Sichtbaren hin zum unverfügbaren Klang, der eine konzeptfreie Wahrnehmung ermöglicht und damit den Deutungsraum öffnet für das Neue und das Transzendente.

Ein besonders kraftvoller bewusstseinsverändernder Prozess liegt im holotropen Atmen, der von Sylvester Walch, dem hierzulande bekanntesten Ausbilder in dieser Technik, vorgestellt wird. Auch hier kommt der Musik eine tragende Rolle zu, welche einen beschleunigten Tiefenatmungsprozess stimuliert.

Den wohl ausführlichsten Kreativprozess, der hier von Franz Mittermair vorgestellt wird, bildet die sogenannte Heldenreise. Diese umfasst eine Vielzahl von Methoden aus der Gestalttherapie, die als Erfahrungseinheiten für die rituelle Inszenierung der eigenen Heldengeschichte über einen Zeitraum von einer Woche dienen. Dabei ist der Heldenmythos die Blaupause für den Prozess, in dem das Spannungsfeld zwischen dem inneren Helden und dem inneren Dämon herausgearbeitet und transformiert wird. Sowohl dieser als auch andere Prozesse, die im therapeutischen Umfeld angesiedelt sind, haben ein großes Potenzial für die Allgemeinbevölkerung und so möchten wir das Bewusstsein wecken, dass diese Methoden bereits aus dem pathologisch begründeten therapeutischen Milieu herausgehoben sind und vielmehr als Mittel zur Persönlichkeitsbildung und Selbsterfahrung für jeden zur Verfügung stehen.

Der im Leben letzte, oft sehr intensive Bewusstseinsprozess, dem wir als Menschen entgegengehen, ist der Vorgang des Sterbens. Hier stellt Sebastian Scheler das Thanatos-Modell vor und gliedert darin die Erlebensvielfalt und die psychisch-seelischen Prozesse im Vorgang des Sterbens detailliert auf. Da wir den Lesern die sorgfältig herausgearbeitete Komplexität der möglichen psychischen Abläufe, Probleme und Entwicklungsschritte nicht vorenthalten wollen, haben wir dem Beitrag seine Überlänge gegönnt. Und so kann das Lesen dieser Zeitschrift selbst eine Reise in die Welt der Bewusstseinstransformation sein und dabei einen Vorgeschmack liefern auf das, was im Grunde nur im Praktizieren dieser Methoden und der Hingabe an das Unbekannte, was dann geschehen mag, erfahren werden kann.

Ein inspirierendes Lesen wünschen Ihnen

Thilo Hinterberger und Nike Walter

Veröffentlicht
2022-06-28