Editorial

  • Liane Hofmann
  • Markus Hänsel
Schlüsselwörter: Editorial

Zusammenfassung

Wir freuen uns, Ihnen die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift „Bewusstseinswissenschaften – Transpersonale Psychologie und Psychotherapie“ vorlegen zu können. Während frühere Ausgaben immer wieder unter einem thematischen Fokus standen, spannen die Beiträge in dieser Ausgabe einen großen Bogen an thematischer Diversität und perspektivischer Vielfalt auf, für den die Zeitschrift auch explizit steht. Darin haben Bezüge zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen ebenso Platz wie grundlegende Betrachtungen transpersonaler und spiritueller Inhalte und Zugänge. Christoph Quarch, Philosoph und Buchautor, befasst sich in seinem Kurzbeitrag „Die Sprache der Symbole“ mit dem Brand von Notre-Dame und mit den Gründen für die ungewöhnlich hohe und kurzfristig mobilisierte Spendenbereitschaft für deren Wiederaufbau. Ein Umstand, der auch in den Medien viel diskutiert wurde. Und vielleicht haben ja auch Sie, liebe Leserinnen und Leser, sich gefragt, warum Sie der Brand von Notre-Dame so ergreift? Quarchs Analyse hierzu ist ebenso tiefgehend und berührend wie erhellend. Er belässt es nicht bei relativ „oberflächennahen“ Antworten, wie zum Beispiel „der Macht der medial verbreiteten Bilder“. Vielmehr öffnet er den Blick für die tieferen, seelisch-existentiellen Dimensionen des Geschehens und der Resonanzen darauf und erschließt so deren Vielschichtigkeit und Tiefe. Dies kann sicherlich viele Menschen darin unterstützen, die durch den Brand der Notre-Dame angestoßenen Prozesse stärker zu durchdringen und zu verstehen. Dabei erschließt sich womöglich auch die ein oder andere Dimension und Perspektive, die einem zuvor nicht bewusst war. Andreas de Bruin, Psychologe, Ethnologe und Professor an der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften in München, nimmt uns mit auf eine Reise in die Welt der großen Meisterwerke der Kunst. Er beschreibt das von ihm initiierte Projekt „Meditation and Art“, welches mittlerweile in mehreren bedeutenden Museen Europas lanciert wurde. Das Anliegen dieses Projektes ist, dem Betrachter neuartige, tiefgreifende und bewusstere Zugänge zur Wahrnehmung und zum Erleben der Kunst zu eröffnen. Das konkrete Vorgehen schöpft sowohl aus konventionellen kunstpädagogischen Ansätzen – wie der systematischen Bildanalyse – als auch aus Ansätzen aus dem Bereich der Achtsamkeit und der Meditation. De Bruin gibt den Teilnehmerinnen und Teilnehmern hierbei Handwerkszeug an die Hand, das sie unterstützen soll, einen intensiven und ganz persönlichen Zugang zu den künstlerischen Werken zu erlangen. Konzentration, meditative Stille, sich auf das Bild als Ganzes einlassen, eine Haltung der Gelassenheit, der Achtsamkeit und der inneren Ruhe, all dies spielt hierbei eine wichtige Rolle. Folgt man den Aussagen einiger großer Meister, so entspringen deren Werke oftmals aus einer „höheren“, „göttlichen“, in modernen Begriffen würde man wohl sagen „transpersonalen“ Sphäre. Diese „besondere Kraft“ zu erschließen, ist ebenfalls eines der Anliegen des Projektes. Mittels des Fallbeispiels „Dürers Selbstbildnis im Pelzrock“ stellt der Autor das Vorgehen anschaulich dar. Seine Schilderungen ermöglichen es, das Geschehen zumindest ansatzweise im eigenen Erleben nachzuvollziehen, und ebenso die Vielfalt an Wahrnehmungsmöglichkeiten und Bedeutungsebenen, die sich dadurch erschließen. Seine Beschreibungen wecken Lust auf mehr von solcherart erweiterten Formen des Kunstgenusses. Die Möglichkeiten einer Einbeziehung der spirituellen Dimension im Kontext der Psychotherapie werden in der psychologischen Fachliteratur etwa seit Beginn der 1990er Jahre zunehmend diskutiert. Auch Martin Brentrup, Psychotherapeut und Supervisor, geht in seinem Beitrag der Frage nach, ob eine Integration von Spiritualität in die Richtlinientherapien sinnvoll und möglich ist. Er erörtert, was es aus seiner Sicht bei dem Versuch einer solchen Annäherung und Integration zu bedenken gibt und welche konkreten Ansatzpunkte und Vorgehensweisen sich hierbei anbieten. Exemplarische Darstellungen von Fällen und therapeutischen Interventionen illustrieren das Ganze. Desgleichen wird deutlich, dass, was die Frage der Integration von Spiritualität in die Psychotherapie betrifft, systemimmanente Merkmale des Gesundheitssystems sowie berufspolitische Faktoren eine bedeutsame Rolle spielen, ebenso aber auch Fragen von Weltanschauung, Menschenbild und Werten, die interindividuell sehr unterschiedlich beantwortet werden. Mit Humor und Augenmaß wägt der Autor das Für und Wider ab und plädiert vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen als psychotherapeutischer Praktiker für eine Haltung der Offenheit und Neugierde gegenüber Spiritualität – und für eine Herangehensweise, bei der sich wissenschaftliche und spirituelle Perspektiven nicht aufheben müssen, sondern fruchtbar ergänzen können. Wilfried Belschner setzt sich in seinem Beitrag kritisch mit der derzeit stark medizinisch ausgerichteten Vermittlung von Qigong in den gängigen Ausbildungsgängen auseinander. Anregend ist hierbei die Verknüpfung von inhaltlichen Reflexionen, pädagogisch-therapeutischen Übungsanleitungen und wissenschaftlich-empirischen Befunden. Der Beitrag ist in seinen Implikationen auch auf andere therapeutische, meditative und gesundheitsfördernde Praktiken übertragbar. Der Einsatz solcher Methoden im Kontext des Gesundheitssystems ist bestimmten gesellschaftlichen, politischen und marktwirtschaftlichen Zielsetzungen unterworfen, die in der Regel, so Belschner, mit reduktionistischen Interpretations- und Rezeptionsperspektiven einhergehen. Als Gegenentwurf zu einer solcherart verkürzten Perspektive eines Medizinischen Qigong stellt er das Existentielle Qigong vor. Über die bloße Förderung der Gesundheit bzw. die Prävention und Behandlung von Krankheiten hinausgehend, ist dieser Ansatz vorrangig an den existentiellen Grundsituationen des Menschseins ausgerichtet. Dadurch steht er im Dienste einer ganzheitlichen Potentialentfaltung und des Werdens eines Menschen. Auch zeichnet sich dieser Ansatz durch einen etwas weiteren Interpretationsraum aus als der aus der chinesischen Kultur abgeleitete. Dadurch eignet sich das Existentielle Qigong hervorragend als nonverbale Methode im Rahmen der Werdens-Begleitung. Richard Stiegler, psychotherapeutisch tätig und Begründer einer eigenen Schule der Transpersonalen Psychologie, entfaltet in seinem Artikel sein Verständnis von Heilung und seelischer Verwandlung. Im Gegensatz zum Vorgehen der tiefenpsychologischen Ansätze, die ihren Fokus auf die Vergangenheit und das Verständnis des biographischen Gewordenseins richten, sieht er das entscheidende Agens, aus dem Heilungsimpulse erwachsen, in der Förderung eines tiefgehenden Kontaktes mit dem gegenwärtigen Erleben. Seine Argumentation stützt sich dabei auf empirische Befunde der modernen Gehirnforschung sowie der Achtsamkeitsforschung. Der Autor erläutert dazu zunächst verschiedene Aspekte von Gegenwart bzw. verschiedene Stufen des Gegenwärtigseins. Hier kommen Qualitäten wie „Gegenwart als das, was ist“, „als Kostbarkeit und Wunder“, „als Hingabe“, „als Freiheit“ oder „als alles umfassende Einheit“ zur Sprache. Er arbeitet aber auch heraus, inwiefern sich ein traditioneller Ansatz von Achtsamkeitsmeditation – im Sinne einer spirituellen Praxis – von transpersonal-psychotherapeutisch orientierten Formen der introspektiven Achtsamkeit unterscheiden. Bei Letzteren handelt es sich um Herangehensweisen, die das Tiefenpotential der Seele aufsuchen und darauf abzielen, heilsame essentielle Grunderfahrungen zu aktivieren. Um einen solchen Ansatz handelt es sich bei der vom Autor entwickelten Transpersonalen Prozessarbeit. Deren konkrete Vorgehensweisen werden dem Leser Schritt für Schritt erläutert. In der vorausgegangenen Ausgabe dieser Zeitschrift wurde der Beitrag „Ganzheit vor und nach 1945. Bemerkungen zu Biographie und Schriften von Karlfried Graf Dürckheim (1986–1988)“, von Hans-Joachim Bieber veröffentlicht. Stefan Schmitz, Psychologe, Sachbuchautor im Bereich der Transpersonalen Psychologie und Psychotherapie sowie Dürckheim-Kenner, hat es sich nun zur Aufgabe gemacht, eine Replik auf diesen Beitrag zu verfassen. Hierbei nimmt er die Lebensphase nach 1945 in den Blick, den Zeitraum, in dem Dürckheim seinen psycho-spirituellen Ansatz der Initiatischen Therapie entwickelte, die existential-psychologische Bildungs- und Begegnungsstätte in Rütte gründete und dort seinen Ansatz in Lehre und Praxis vermittelte. Anders als Bieber ist Schmitz der Ansicht, dass sich bei Dürckheim nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund der damit verbundenen Erfahrungen ein grundlegender Gesinnungswandel vollzogen hat, im Sinne einer Befreiung von der nationalsozialistischen Ideologie. Um seine Position zu begründen, unternimmt er den Versuch, die strittigen Begriffe und Konzepte – maßgeblich den Begriff der „Ganzheit“ – aus Dürckheims eigenen Veröffentlichungen heraus nachzuvollziehen und zu klären. Der Autor schließt mit der Benennung einer Reihe von guten Gründen, die dafür sprechen, Dürckheims Werk weiterhin für die Transpersonale Psychologie fruchtbar zu machen. Die Ausgabe schließt mit einem Text von David Lukoff, Psychologe und einer der Pioniere der Transpersonalen Psychologie in den USA. Er hat sich erfreulicherweise bereit erklärt, einen persönlich geprägten Kurzbericht über die Tagung zum 50. Geburtstag der Association for Transpersonal Psychology für uns zu verfassen. Die Tagung trug den Titel „The Future of Transpersonal Psychology: Acknowledging the Past, Honoring the Present, and Envisioning the Future” und fand im April dieses Jahres in Asilomar, Kalifornien statt. Uta und Joachim Galuska möchten wir ganz herzlich danken für die inspirierenden Kalligraphien und Texte, die sie für diese Ausgabe aus ihrem neuen Buch „Seelenleben“ zur Verfügung gestellt haben. Uns bleibt nun nur noch, Ihnen ein inspirierendes und bewusstseinförderndes Lesevergnügen zu wünschen!

Liane Hofmann und Markus Hänsel
 

Veröffentlicht
2019-07-23