Editorial

  • Liane Hofmann
Schlüsselwörter: Editorial

Zusammenfassung

Liebe Leserinnen und Leser,

die vorliegende Ausgabe versammelt eine Reihe von empirischen und theoretischen Beiträgen zu aktuellen Fragestellungen der Bewusstseinswissenschaften, Transpersonalen Psychologie und Psychotherapie.

Studien aus dem Gebiet der positiven Psychologie befassen sich gemeinhin mit den salutogenen und wachstumsfördernden Qualitäten menschlichen Erlebens. Dieser Forschungszweig hat in den vergangenen beiden Jahrzehnten stark an Bedeutung gewonnen. Arndt Büssing, Lehrstuhlinhaber für Lebensqualität, Spiritualität und Coping an der Universität Witten/Herdecke, präsentiert in seinem empirischen Beitrag die Befunde einer umfangreichen und kontinuierlichen Datenerhebung mittels Fragebogen zur Frage, wie sich Aspekte des Konstrukts „Staunendes Innehalten in Ehrfurcht und Dankbarkeit“ im Zeitraum der Coronapandemie veränderten. Dabei war von besonderem Interesse, in welcher Beziehung sie zu Belastungserleben und Wohlbefinden ebenso wie zu spezifischen Formen der spirituellen Praxis stehen. Die Studie zeigt: Die Fähigkeit zu Ehrfurcht und Dankbarkeit kann für das Besondere im Leben sensibilisieren und dadurch zum psychischen Wohlbefinden beitragen und dies selbst in herausfordernden Zeiten.

Claudia Orellana-Rios hat im Rahmen ihrer Dissertation mit Unterstützung und Betreuung durch ihre Co-Autoren Andreas Anton, Stefan Schmidt und Lukas Radbruch eine äußerst interessante und methodisch elaborierte prospektive Mixed-Methods-Interventionsstudie durchgeführt. Dabei ging es um den potenziellen Nutzen der Kultivierung von Selbstmitgefühl unter Fachkräften der Gesundheitsversorgung. Für das Arbeitsfeld der Palliativversorgung, welches sich durch ein besonders hohes Belastungspotenzial auszeichnet, gehen sie der Frage nach, ob die Entwicklung und Implementierung eines Programms zur Stärkung von Selbstmitgefühl eine ressourcen- und resilienzstärkende Wirkung auf die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zeitigt. Die Befunde der Studie sind ebenso facetten- wie aufschlussreich. Der vorliegende Beitrag fokussiert auf die subjektiv empfundene Wirkung des Trainings auf die Teilnehmenden. Die Ergebnisse legen unter anderem nahe, dass die kulturelle und kontextuelle Einbettung von Achtsamkeits- und Selbstmitgefühlspraktiken eine besondere Sensibilität und zuweilen auch entsprechende kontextspezifische Adaptionen erfordert. Dieser Beitrag ist etwas länger ausgefallen als üblich, da die zugrunde liegende qualitative Methodik einen erweiterten Darstellungsraum nahelegt.

Die beiden (Wissens-)Soziologen Andreas Anton und Alan Schink liefern mit ihrem Artikel eine systematische und perspektivenreiche Analyse des komplexen Phänomens der „Verschwörungstheorien“. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass Verschwörungstheorien, wohl vor allem aufgrund der zunehmenden Verbreitungsmöglichkeiten durch das Internet, heutzutage eine erhöhte Sichtbarkeit erlangt haben, was wiederum zu einer erhöhten und tagtäglich beobachtbaren Sensibilität gegenüber dem Thema in der deutschen Öffentlichkeit geführt hat. Anders aber als der dominierende mediale, politische und wissenschaftliche Diskurs, der Verschwörungstheorien nahezu ausschließlich als soziales Problem und als potenzielle Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung verortet, argumentieren die Autoren für eine ausgewogenere und erweiterte Sichtweise, die darüber hinausgehend auch die möglichen positiven Funktionen und die Potenziale von Verschwörungstheorien anerkennt – etwa im Sinne einer wichtigen Schutzfunktion demokratischer Gesellschaften gegen reale Verschwörungen. Der Artikel schließt mit Überlegungen hinsichtlich des angemessenen, reflektierten und differenzierten Umgangs mit Verschwörungstheorien und den damit verbundenen Herausforderungen. Den Leserinnen und Lesern wird somit ein kenntnisreicher Ein- und Überblick zu einem gesellschaftlich virulenten Thema vermittelt, der zu einer fundierten persönlichen Urteilsbildung und Positionierung beitragen kann.

In seinem Beitrag „Wissenschaft jenseits des materialistischen Weltbildes“ hinterfragt der Psychologe und Wissenschaftstheoretiker Harald Walach kritisch die implizite kulturelle Dominanz der naturalistisch-materialistischen Weltsicht, einschließlich der gemeinhin unhinterfragten A-priori-Annahme, dass es sich hierbei um die einzig wissenschaftsfähige Ontologie handele. Anstelle dessen plädiert er für ein erweitertes Wirklichkeits- und Wissenschaftsverständnis, welches das Bewusstsein als ontologisch eigenständigen Phänomenbereich versteht und Zugänge der subjektiven Erfahrungsperspektive systematisch und methodisch kontrolliert miteinschließt. Anhand einer Reihe von Phänomenbereichen wie parapsychologischen Phänomenen, nichtlokalen Phänomenen während eines Nahtoderlebnisses oder Reinkarnationserinnerungen von Kindern zeigt der Autor auf, dass die Absolutheit des naturalistisch-materialistischen Weltbildes mit den empirischen Befunden in diesen Bereichen nicht in Einklang zu bringen ist. Der Artikel skizziert wesentliche Argumentationslinien des Galileo-Reports, welcher im Kontext des Galileo-Commission-Projekts im Auftrag des Scientific und Medical Network erarbeitet wurde.

Basierend auf einer phänomenologischen Studie nähert sich der Psychologe und Psychotherapeut Johannes Schmidt in seinem Beitrag einem ebenso subtilen wie essenziellen Thema – dem Phänomen der Teilhabe an einem unbenennbaren Numinosen und dessen Bedeutung für die Psychotherapie. Dies ist ein mutiges Unterfangen, handelt es sich bei den interessierenden Phänomenen doch um äußerst subtile, subjektive Wahrnehmungsphänomene, die sich den gängigen Erfassungsmethoden einer wissenschaftlichen Methodik ebenso zu entziehen scheinen wie unserer im Vergleich dazu relativ grob anmutenden sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit. Der Autor unterscheidet demgemäß sinnliche Wahrnehmungen von „Bewusstseinsempfindungen“, um die graduellen Abstufungen in der Feinheit des menschlichen Sensoriums zum Ausdruck zu bringen. Auch wenn längst nicht alle Menschen ein derart feines Wahrnehmungsvermögen bzw. die Fähigkeiten zu solch sensiblen Bewusstseinsempfindungen entwickelt haben, so ist doch genau dies das Bestreben von vielerlei Methoden der körpertherapeutischen, psychotherapeutischen und spirituellen Bewusstseinsarbeit, um dadurch Zugänge zu einem vertieften Selbst- und Weltverständnis zu erschließen. Der Autor beschreibt sehr feinsinnig und differenziert die Bedeutsamkeit dieser transzendenten Dimension für psychotherapeutische Prozesse und die menschliche Selbstrealisation. Er bricht damit eine Lanze dafür, derartige Bewusstseinsempfindungen ernst zu nehmen, sie zu unterstützen und sich für das Phänomen von Transzendenz als Wirkfaktor in der Psychotherapie zu öffnen.

Ulla Pfluger-Heist, Psychosynthesetherapeutin und Mitglied des Ausbildungsteams im Psychosynthese Haus Allgäu, befasst sich in ihrem praxisorientierten Beitrag „Wer einem Stern folgt“ mit der Frage, wie Wandlung gelingen kann – und das selbst in schwierigen und unübersichtlichen Zeiten. Die Autorin arbeitet seit vielen Jahren mit dem therapeutischen Verfahren der Psychosynthese nach Roberto Assagioli. Die Psychosynthese gilt als einer der bedeutendsten Ansätze der transpersonalen Psychotherapie aus dem europäischen Raum. Anhand eines Fallbeispiels veranschaulicht die Autorin wesentliche theoretische Konzepte und methodische Vorgehensweisen dieser Schule. Damit gewinnt der Leser eine Ahnung von der bunten Vielfalt der methodischen Zugänge, aber auch von der Differenziertheit und dem Tiefgang, mit dem die Psychosynthese verschiedene Aspekte und Schichten des menschlichen Wesens in den Blick nimmt – wodurch nicht zuletzt auch entsprechend tiefgreifende Wandlungsprozesse möglich werden.

Bleibt mir nur noch, Ihnen viel Freude an den Beiträgen und reichhaltigen Erkenntnisgewinn zu wünschen!

Liane Hofmann

Veröffentlicht
2022-12-06