Editorial

  • Thilo Hinterberger
  • Harald Piron
Schlüsselwörter: Editorial

Zusammenfassung

Die Beiträge dieses Heftes setzen sich implizit oder explizit kritisch mit dem „modernen“ Kompetenz-Begriff auseinander, wie er im Gesundheitswesen von praktizierenden Psychotherapeuten und Ärzten, in Unternehmensstrukturen und Betrieben und in den meisten anderen Fachbereichen der Wissenschaften als scheinbar objektiver, unanfechtbarer Maßstab das professionelle Handeln steuert und einschränkt. Subjektive Erfahrung als Kompetenzgrundlage – so das pointiert provokante Schwerpunktthema dieses Heftes – scheint in einem solchen augenscheinlichen Konsens der Communité Scientifique nicht vorzukommen. Intuitive und empathische Erkenntnisprozesse werden als sträfliche Kunstfehler gewertet und ihre Befürworter denunziert. Kompetenz ist ein Schlagwort unserer Zeit, mit dem sich Unternehmen und Dienstleister heute gerne schmücken. Dabei wird das Ziel verfolgt, im Wettbewerb bestehen zu können. Doch woher kommt solcherlei Kompetenz und wie wird sie erlangt? Wissen wird vermittelt, geprüft und soll später als Kompetenz gelten. Wann gilt ein Mensch oder ein Unternehmen als kompetent? Wodurch erlangt ein Arzt beispielsweise seine Kompetenz? Sicherlich trägt das Lesen von Fachwissen im entsprechenden Fachgebiet dazu bei. Doch woran misst sich dieses Wissen? Sicher misst es sich daran, ob und wie wir in der Lage sind,damit umzugehen. Und dazu braucht es eigene Erfahrung, die Übung und den Umgang mit der Materie. Kompetent fühlt man sich, wenn man selbst zu diesem Wissen geworden ist. Wenn wir als Subjekte durch unser Sein die individuelle Verbundenheit mit einem Thema demonstrieren, dann werden wir auch objektiv von der Gesellschaft als kompetent wahrgenommen. In diesem Sinne ist die subjektive Erfahrung als Kompetenzgrundlage zu sehen. Doch so unterschiedlich die Erfahrungen einzelner Menschen sind, so unterschiedlich fallen auch ihre Kompetenzen aus. Daher ist Vorsicht geboten, wenn wir einem Menschen das Etikett ‚kompetent‘ oder ‚inkompetent‘ anheften, da dieses Etikett sich stets auf einen willkürlichen, äußeren Maßstab bezieht. Die Kompetenz eines jeden Menschen ist einzigartig und muss individuell entdeckt werden, wenn wir den Wert eines Menschen erkennen und würdigen wollen. Aus dieser Erkenntnis ergibt sich eine Aufgabe für unsere Gesellschaft und speziell für unser Bildungssystem. Kompetenz ist etwas, das sich nicht allein durch Wissen erschaffen lässt, sondern es braucht die Hingabe jedes Einzelnen zu einem Thema. Daher gilt es, den Menschen in seiner subjektiven Erfahrungswelt und seinen individuellen Zugangsmöglichkeiten in den Mittelpunkt zu stellen. Die individuellen Kompetenzen, die in unserer heutigen Gesellschaft nötig sind, um sich in einer Welt voller Ungewissheiten persönlich wie beruflich zurechtzufinden, gehen dabei über das Maß des gemeinhin Vermittelten hinaus. Dies führt uns Heinrich Dauber mit seinem Artikel zur ‚Ungewissheitstoleranz als neue Schattenkompetenz‘ auf illustrative Weise vor Augen. Experten und Bürokraten fordern immer neue Kompetenzen. Dauber stellt zur Diskussion, inwieweit es möglich und notwendig ist, die damit einhergehenden fremdbestimmten Kompetenzbeurteilungen zurückzuweisen und ein ‚Recht auf Inkompetenz‘ zu beanspruchen. Hierzu zieht er historische Texte zur Debatte über die ‚Grenzen des Wachstums‘ heran und sucht in der neueren sozialwissenschaftlichen Literatur nach Orientierung. Das wachsende Interesse von Führungskräften und Wirtschaftsvertreten an christlichen Vereinigungen und Kongressen, an Achtsamkeitspraxis oder Meditation, spiegelt ein Bestreben nach persönlicher Integrität wider, die sich mit den beruflichen Anforderungen einer globalisierten Welt verbinden lässt, einer Welt, die vorwiegend durch eine Orientierung an Gewinnmaximierung und reinem Verwertungsinteresse gekennzeichnet ist. Hartmut-W. Frech geht in seiner Untersuchung der Frage nach, inwiefern eine intensive und kontinuierliche spirituelle Praxis dabei helfen kann, diesen Spagat zu meistern. Die Befragten aus vorwiegend mittelständischen Unternehmen, die einen mindestens 5-jährigen spirituellen Weg hinter sich haben, berichten von einer anfänglich erhöhten Diskrepanz zwischen persönlicher Integrität und beruflichen Anforderungen sowie der Erschließung innerer Kraftquellen und das Entstehen eines tiefen Vertrauens in positive Zukunftsentwicklungen, welche zur Erweiterung der eigenen Erlebens- und Handlungsmöglichkeiten beigetragen haben. Roland Drews, Katja Boehm und Wilfried Belschner versuchen hier die Konzepte der emotionalen Kompetenz und Intelligenz mit dem Konzept der Achtsamkeit in Verbindung zu bringen. Aus den gefundenen Zusammenhängen wird deutlich, dass gerade unsere Wahrnehmungsfähigkeiten als Grundlage dafür angesehen werden können, wie wir in die Welt treten und mit ihr interagieren können. Kurt Gemsemer widmet seinen Beitrag der heilsamen Wirkung tieferer Bewusstseinszustände und geht dabei auf das befruchtende Zusammenspiel von Meditation und Psychotherapie ein. Die pathologische Sichtweise wird erweitert und in eine evolutive Perspektive gestellt, indem psychische Störungen als Manifestationen von Hemmnissen der Bewusstseinsentwicklung verstanden werden, denen ein „leidensbedingter Entwicklungsdruck“ mit Aufforderungscharakter innewohnt. Umgekehrt könne die durch Meditation geförderte Bewusstseinsentwicklung solche Psychopathologien wie Angst und Depression, auf die der Autor hier näher eingeht, hinter sich lassen. Edgar Harnack hinterfragt kritisch die Grenze zwischen Psychopathologie und veränderten bzw. erweiterten Bewusstseinszuständen am Beispiel der Schizotypie. Ohne eine Gleichsetzung zu favorisieren, stellt er sehr akribisch und fachkundig einige Gemeinsamkeiten heraus, ausgehend von einem Vergleich der Diagnose-Kriterien der Schizotypie mit Merkmalen transpersonaler oder spiritueller Erfahrungen. Fallbeispiele lassen erahnen, dass sich hinter der Diagnose einer schizotypen Störung nicht selten ein Diagnostiker verbirgt, der seine eigenen Ängste vor dem Unbekannten, unhinterfragte Weltanschauungsstereotypien oder ungeklärte bzw. verdrängte Sinnfragen mit einer auf Pathologie-Bücher gestützten, vermeintlichen „Fach-Kompetenz“ unterdrückt, anstatt das Potenzial außergewöhnlicher Wahrnehmungen und Bewusstseinserfahrungen für den Heilungs- und Entwicklungsweg des Klienten zu nutzen. Über ein höchst innovatives Projekt zur interaktiven Exploration von Forschungsfragen aus der Synthese aus Wissen, persönlicher Erfahrung und gemeinsamem Erleben berichten Thilo Hinterberger und Christina Koller. Das Forschungsretreat „Klang, Rhythmus und Bewusstsein“ eröffnete einen Raum für interdisziplinären, professionsübergreifenden Austausch, an dem sowohl Wissenschaftler und Studenten, als auch Praktizierende, aber auch interessierte Laien teilnahmen. Die Kombination von Inhaltsvermittlung, Selbsterfahrung, experimenteller Beteiligung, Stille und Erfahrungsaustausch erwies sich für die Teilnehmenden als persönlich bereichernd und fruchtbar für die Entwicklung neuer Forschungsfragen.

Thilo Hinterberger Harald Piron

Veröffentlicht
2012-07-25